Feine Unterschiede

Hallo Mitwelt

Um die ungeschriebene Stille des Blogs schriftlärmend zu füllen und so die trotz üppigster Themen und Ideen Schreibblockade auszutricksen, greife ich als altgedientes Schriftgut zurück. Auf längst Geschriebenes, das ich im blogbekannten Recycling auferstehen lasse. Hoffentlich lesbarer und lesenwerter als ein Lektürezombie. Speziell dieses Posting ist dann Recycling-Auftakt einer unbestimmt regelmäßigen Reihe, wo ich studiose Machwerke rauskrame und hier einstelle. Klarer Schwerpunkt ein soziologischer, worauf ich dann jenseits von Wiki verweisen kann.

Im konkreten Fall handelt es sich um eine ausgeführte Antwort auf eine mitabgedruckte Frage von einigen. Ich habe nur HTML codiert ein wenig Form hineingebracht, exakt zwei Tippfehler korrigiert und ansonsten reichlich Links gesetzt. Diese vertiefen detailliert die Ausführungen – wer sich zu Mehrwissen ermutigt fühlt, kann linkisch in die Untiefen fragenproduzierenden Wissens vorstoßen. Wiki weiß weiter! Nun denn zu einem jungen, dennoch leider bereits verstorbenen Klassiker der Soziologie…

Pierre Bourdieu – von Klassen, Kapitalien und Lebensstilen

Pierre Bourdieu schließt in seinem Ansatz an die Klassentheorie von Karl Marx an. In welcher Weise kommt dieses Erbe in seiner Theorie zum Ausdruck und inwiefern geht er darüber hinaus? 5Punkte

Der frz. Soziologe Pierre Bourdieu knüpft auf zweierlei Weise direkt an Marx an: Zum einen konzipiert er sein Modell des sozialen Raumes vertikal auch entlang von Klassen, wenn er diese jedoch von zwei auf eine dritte erweitert und diese auch manifest bleiben (und nicht wie das Marxsche Kleinbürgertum im Proletariat schlussendlich aufgehen lässt; zum anderen greift er auf Marx‘ Begriff des Kapitals zurück, erweitert diesen jedoch erheblich, so dass das ökonomische Kapital nur noch eine von vier Ausformungen ist.

Bourdieus Gesellschaftsmodell (das er für Frankreich der 60er und 70er Jahre empirisch fundierte, aber auch auf alle Klassengesellschaften anwendbar hält) ist dreidimensional konstruiert (und geht allein in solcherlei Grundlegendem über Marx weit hinaus). Auf der vertikalen Achse der Strukturebene werden die (nach Wahrscheinlichkeiten gebildeten) Klassen, vor allem aber die sozialen Positionen abgetragen. Auf der horizontalen Achse der Handlungsebene finden sich die Lebensstile wieder. Auf der applikaten Achse der Zeitebene wird die soziale Laufbahn abgetragen.

Der soziale Raum der Gesellschaft ist weiterhin unterteilt in die beiden Subräume der objektiven sozialen Positionen sowie der subjektiven Lebensstile, die getrennt voneinander durch den Habitus der jeweiligen Person verbunden werden. Mit Habitus ist die inkorporierte Sozialisation gemeint, also die im (Zeit-)Verlauf der Sozialisation angeeigneten und internalisierten, quasi körperlich / fleischgewordenen Werte und Verhaltens- wie Handlungsweisen. Der Habitus prägt also Praxis und deren Formen einer Person.

Soziale Positionen wiederum hängen objektiv von dreierlei ab:

  • 1. Dem Kapitalvolumen als Quantität aller Kapitalsorten (s.u.), deren Veränderung eine Person vertikal auf- oder absteigen lässt im sozialen Raum;
  • 2. Der Kapitalstruktur, also der anteiligen Verteilung der drei Kapitalsorten untereinander, deren Veränderung eine Person horizontal zwischen Gruppen/sozialen Feldern im sozialen Raum wechseln lässt;
  • 3. Der sozialen Laufbahn, die in diachroner Perspektive Veränderungen unter 1. Und 2. in Form von Positionsveränderungen im sozialen Raum anzeigt und somit als (vorerst einmal nur personaler-/mikro-)dynamischer Prozess zu verstehen ist.

Während man im Raum der sozialen Positionen um insbesondere ökonomisches und kulturelles Kapital ringt, kämpft man im Raum der Lebensstile um symbolisches Kapital.

Welche Kapitalsorten gibt es nun? Deren vier, die z.T. bereits erwähnt wurden:

  • Erstens das ökonomische Kapital, mit dem Bourdieu nahe bei Marx ist, da hierunter ebenfalls Besitz/Eigentum gemeint ist, aber auch ganz allgemein jede Art von Geld oder in Geld transformierbare Besitzstände und keinstenfals nur Produktionsmittel. Besitzgüter wie Bücher oder Musikinstrumente bedürfen jenseits ihrer Inbesitznahme jedoch noch weiterer Kapitalien, um sie jenseits rein fiskaler Wertigkeiten anwenden zu können.
  • Zweitens das kulturelle kapital, das dreiförmig ist: A) Inkorporiertes Kulturkapital, im Zeitverlauf der Sozialisation in sich aufgenommene Bildung und Wissen, für die man jedoch Aufwand betreiben musste und das daher nicht einfach so übertragbar ist. Welches und wie viel man an Bildung und Wissen aufnehmen kann, hängt jedoch stark von der familiären Herkunft und der familiaren Klassenzugehörigkeit ab.
    B) Objektives Kulturkapital in Form von Kulturgütern wie Musikinstrumenten oder Büchern, die man sich mittels ökonomischen Kapitals hat zulegen können, deren Bedeutung jedoch nur mittels inkorporierten Kulturkapitals adäquat erfasst und erschlossen werden kann. Diese Kapitalie kann man zwar durchaus weitergeben, aber sie wird nur dann richtig angewandt werden können, wenn dem Käufer/Beschenkten entsprechend inkorporierte Voraussetzungen gegeben sind (sonst verstaubt das Buch ungelesen oder zwar gelesen, aber nicht verstanden im Regal). C) Institutionalisiertes Kulturkapital in Form von Zertifikaten, Auszeichnungen und sonstigen rechtlich anerkannten Nachweisen erbrachter oder angeeigneter Bildung oder Leistung, wofür jedoch auch Zeit aufzuwenden war, die im weiteren Werdegang jedoch gut in ökonomisches Kapital umgeformt werden kann (höherer Bildungsgrad verspricht höhere berufliche Tätigkeit mit mehr Einkommen).
  • Drittens das soziale Kapital, womit soziale Netzwerke und Personenkreise gemeint sind, mit denen man verkehrt, Beziehungen (pro-aktiv!) pflegt. Auch hier ist die Familie als Ausgangspunkt entscheidend, welche Kontaktnetze sie offeriert und ermöglicht, auf die man von Anfang an zurückgreifen und die man im Weiteren ausbauen kann. Alle drei Kapitalien sind unter- und ineinander konvertierbar, wenn auch in unterschiedlichem Grade und mit verschieden großem Aufwand.
  • Viertens sodann noch das symblische Kapital, womit Prestige und Anerkennung gemeint ist. Dieses fußt zwar notwendig auf den vorigen drei Kapitalien, geht aber (emergent) über sie hinaus, sprich Kapitalvolumen und/oder Kapitalstruktur alleine sagen noch nichts über die tatsächliche Höhe des symbolischen Kapitals aus. Wie oben gesagt, ist symbolisches Kapital im Raum der Lebensstile das entscheidende „Gut“.

Di Bourdieuschen Klassen nun sind im Gegensatz zu Marx nur „wahrscheinlich“, auf gewisse Weise also „Klassen an sich“, denen sich der Einzelne jedoch nur diffus bewusst ist (also keine Klassen für sich), die ergo den Habitus desjenigen nur indirekt und vage beeinflussen. Da es folglich zu keinem Klassenkonflikt im Marxschen Sinne kommt, bei dem sich die Klassen für sich radikal gegenüberstehen, finden bei Bourdieu auch keine makrodynamischen Gesellschaftswandlungen statt, sondern im sozialen Raum der Klassen bewegen sich die Personen in quasi mikrosozialer Mobilität nach oben oder unten. Ähnlich wie Marx benennt Bourdieu jedoch die oberste Klasse auch als „herrschende Klasse“ und die unterste als „beherrschte Klasse“, dazwischen existiert jedoch manifest die mittlere Klasse des absteigenden, exekutiven sowie neuen Bürgertums, die sich lebensstil-expressiv und vermittelt des Habitus von unten abzusetzen versuchen, mindestens ihre erreichte soziale Position zu halten bemüht sind oder den harten und schweren Aufstieg im sozialen Raum auf sich nehmen, um der oberen Klasse näher zu kommen. Zwischen den Klassen bestehen ganz im Gegensatz zu Marx jedoch nur „feine Unterschiede“, die bei weitem nicht nur auf ökonomischen (Kapital-)Besitz beruhen und sich durch distinktive Praktiken auszeichnen. Wer den – analog zum topografischen Raum – steilen Aufstieg auf sich genommen hat und höher angekommen ist, macht sich dort durch die angestrengte Verkrampftheit bemerkbar, mit der er/sie sich dort oben nur halten kann, was sie/ihn von den Etablierten fein unterscheidet und so noch dort Unterschiede erkennbar macht, wo an sich ein- und dieselbe Klasse „bewohnt“ wird.

Die entscheidenden Unterschiede zu Marx sind also, dass Bourdieu die übernommene Vertikalität des Modells erweitert, eine Horizontalität hinzufügt, diese beiden sogar noch um einen Zeitfaktor ergänzt, jegliche Konflikte von den makrologischen Klassen auf die Ebene mikrosozialer Kämpfe um „feine Unterschiede“ verlagert und somit ein ganz anderes Verständnis gesellschaftlicher Entwicklung zugrundelegt. Auch erweitert er rein objektive sozialstrukturelle Merkmale um subjektive auf der Handlungsebene in Form von ästhetisch-expressiven Lebensstilen, die sich u.a. durch Geschmack (beim Essen [wobei mehr bei der Art und Weise des Essens, nicht ob ein bestimmtes Essen schmeckt], bei Moden, usw.) ausdrücken.

Ein kurzes Nachwort

So viel also in komprimierter Textur zu Bourdieus Gesellschaftsverständnis und –modell, wie er es v.a. von den 1960er Jahren an erarbeitet hat. Gestorben 2002, ist er gewiss nicht der erste, auch nicht einzige, aber eben doch wirkmächtige Türöffner für eine Praxeologie

…eine Praxistheorie des Handelns. Oben im Text nicht im Fokus rückt in praxeologischer Sicht der handelnde Mensch als sog. Akteur ins Zentrum. Als solcher jedoch nicht als Cogito ergo sum-Subjekt, der rein mit Kantscher Vernunft Homo oeconomisch durch und durch rationalisiert die Welt qua sapientem Willen gestaltet. Vielmehr steht der praxeologische Mensch mit all seiner Körperlichkeit, von der aus und mit der und durch die (generisch) er inmitten seiner Alltagswelt handelt, im Zentrum. In diesem Sinne ist er dann (Mit-)Produzent seiner Lebenswelt. Einerseits. Andererseits verkennt eine solche Sicht mitnichten, dass dieser Produzent gleichzeitig auch Produkt der Lebenswelt ist, in die er hineingeboren worden ist und durch die er stets aufs Neue reproduziert wird. Produzierendes Produkt und produzierter Produzent in Personalunion. Lebensweltlicher Konturierer, der handelnde Spuren hinterlässt, sowie lebensweltlich Konturierter, der wie eine Spur geprägt ist. Hierzu hat Bourdieu verdienstvollste Beiträge geleistet. Beiträge, die im folgenden Beiträgen anderen Denkschulen und Sichtweisen auf die soziale Welt entgegengestellt werden. Sobald nämlich nächstes Recycling ansteht…!

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2 Kommentare zu „Feine Unterschiede

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