Lemiade fortgesetzt – ein paar Einwürfe

Hallo Mitwelt!

Auch wenn die Besinnung auf Stanislaw Lem im Feuilleton und Radio längst wieder vorbei ist nach drei Monaten, einem Vierteljahr nach dem Jubiläum zum 100. Geburtstag im September, ist die Lemiade hier im Blog mitnichten vorbei. Es mag unregelmäßiger um Lem werden, das mag sein, aber er wird immer wieder auftauchen, sich Worte verschaffen und Raum dafür erhalten. Ich will hier und jetzt nur ein paar Empfehlungen nachreichen, die bisher unerwähnt geblieben sind, was somit zu ändern ist.

Die große Hörspiel-Box

Beim Audio-Verlag ist auf 8 CDs oder als MP3-Download Die große Hörspiel-Box herausgekommen. Folgende acht Hörspiele sind, von mir sortiert nach ihrem Erscheinungsdatum, in ihr enthalten

  • Die Lymphatersche Formel (WDR 1973)
  • Rückkehr zur Erde (SWF, heute SWR, 1974)
  • Schichttorte (WDR 1974)
  • Professor Tarantogas Sprechstunde (ORF 1978)
  • Der getreue Roboter (DRA 1980)
  • Königsmatrix (DRA 1984)
  • Solaris (MDR 2006)
  • Der Unbesiegbare (MDR 2018)

Vier und somit die Hälfte entstammen den 1970er Jahren, zwei =ein Viertel den 80ern und doch noch zwei von acht sind Tonkinder des 3. Jahrtausends; für mich prägender Der Unbesiegbare erhörte erst vor 3 Jahren den Schall der Welt. Und sein berühmtestes Werk Solaris, bis dahin schon zweimal verfilmt, ist 2006 auch auffallend spät erst vertont worden.

Auch wenn die Hörspiel-Box mit 7h 53m Laufzeit allemal eine „große“ ist, ist sie nicht vollständig, umfasst nicht alle Lemschen Verhörspielungen. So fehlt es leider sowohl an

  • 50:40m langem “Test“, einem Hörspiel mit unserem Freund Pilot Pirx, das beim SRF, NOCH als Stream oder Download zur Verfügung steht und wo Pirx und seine ureigene Art schön in Ton gesetzt wurde;
  • Die Mondnacht in 48m (BR/NDR/SDDR/SFB 1976).

Die Mondnacht

Die Mondnacht ist ein Hörspiel meiner Kindheit, gehört erinnertermaßen zu den frühen, ggf. dem frühesten „Lems“, zu denen ich Zugang hatte. Zum Jubiläum erneut ausgestrahlt, hörte ich es nach überlanger Zeit wieder, nachdem die Kassette leider längst entschwunden war. Nostalgische Freude für mein erinnertes Selbst, atemlos auf dem Mond in funkstiller langer Nacht mit den beiden Protagonisten ums Leben zu ringen. Für mich in relativer Kürze von 48 Minuten entfaltete sich damals im Hörspiel mehr als nur ein einziger Raum eines konzentrierten Kammerspiels; vielmehr war es für mich eine ganze Welt, quasi ein Universum, das sich mit so wenigen Stimmen auftat. Der – interessanterweise – NASA-Sprecher der Bodenstation von Mission Control, der zu anfangs mit den beiden Mondschläfern spricht und kurz irdische, allzu irdische Nachrichten einspielt. Von hieran, sobald die Erde hinter den Horizont gesunken und der Funkkontakt für viele Tage abgebrochen ist, beginnt das Drama im Mond und nimmt seinen Lauf.

Hatte für mich Monder, der Mondcomputer früher schlicht genauso zu klingen gehabt, war das die nichts als passende Stimme für eine – damals noch nicht so genannte – KI, trieb mich Monder, der Mondcomputer mit seinen bürokratischstmöglichen Ausführungen, seinem langatmigen Paragrafenreiten in pure Ungeduld. Erst jetzt fiel mir auch auf, wie irritierend es doch ist: Monder kommuniziert ausschließlich per Sprache! Es scheint keinerlei schriftliche oder anderswie symbolische Anzeige zu geben, auf die sich die beiden Mondschläfer verlassen, die sie parallel einbeziehen könnten. Nur Monders, mit üblem Geräusch stets angekündigtes Gequatsche, was laut Vorschrift wann, wie und in welcher Reihenfolge zu tun sei, um der sich anbahnenden katastrophe zu entgehen. Und am Ende ist es um Monder auch traurig bestellt, da er offensichtlich nicht nach Asimovschen Robotergesetzen programmiert ist. Auch ist es keine starke künstliche Intelligenz, die relativ eigenständig sinnvolle Informationen beiträgt und im Sinne der Schöpfer und zu beschützenden Menschen deren Wohl und Weh vorausbedenkt. Nein, Monder ist eine arg schwache künstliche Intelligenz, die – eventuell alleinig der Dramaturgie geschuldet – Punkt für Punkt verwaltungsbeamtisch abarbeitet, was laut Protokoll zu tun sei. Kein bisschen psychologisch „geschult“, sind die gemachten Prognosen, bis wann der Sauerstoff ausgeht, auch wenig ermutigend oder didaktisch geschickt, sondern mit dem Holzhammer auf den Kopf zugesagt. Keine Evaluation der Situation, ob die Handbuchvorschriften überhaupt angemessen, vor allem zielführend nützlich sind.

Demgegenüber die beiden (US-amerikanischen) Astronauten, über deren Eignungen oder genaue Tätigkeiten vor Ort wir nahezu nichts erfahren. Womit sie – außer mit Baden – ihre Zeit verbringen, bleibt weitgehend unklar. Und falls man sie nach psychologischen kriterien als Zweierteam ausgewählt haben sollte, dann war diese Selektion purer Murks. Mein jungego fand es äußerst eindrücklich, wie sich die Lage zuhörends aufschaukelt, die Unterstellungen, Bedrohungen und Anfeindungen stetig zunehmen. Mal war ich für diesen, dann für jenen, die mir heute stimmlich nicht verschieden genug sind. Dann war erst dieser ein Fiesling, sodann jener ein fieser Möpp. Erschien mir nämlich ein Vorschlag zur Güte genau richtig, um die Wellen zu glätten, handelte sogleich der je andere voller Argwohn und getrieben von Misstrauen, womit er alles hintertrieb und zunichtemachte.

Aber hör doch selbst! 😛

Biografische Lektüre

Mir bis dahin unbekannt, habe ich an gänzlich unverhoffter Stelle einen Fund über Lem gemacht. Nämlich in Zeithistorische Forschungen von Jutta Braun: „DIE REALITÄT DER FIKTION – Historische Erfahrung und Futurologie im Werk von Stanisław Lem – zum 100. Geburtstag“

Sein erster Roman »Das Hospital der Verklärung« war ein überaus realistisches Werk, noch dazu mit dem Blick in einen historischen Abgrund: Beschrieben wird die Konfrontation eines jungen polnischen Arztes mit dem Patientenmord an den Bewohner*innen einer Nervenheilanstalt während des Zweiten Weltkrieges durch die deutschen Besatzungstruppen. Dieser Erstling ist hinter den Spiralnebeln der späteren Bestseller des Autors lange Zeit weitgehend verborgen geblieben. Doch ist die Darstellung nicht allein aufgrund ihrer literarischen Qualität bedeutsam, sondern stellt, 1948 geschrieben, eine der ersten intellektuellen Reflexionen des nationalsozialistischen Krankenmordes dar. Vor allem trägt der Text zur Erhellung einer wesentlichen biographischen Dimension von Stanisław Lem bei: seiner eigenen und familiären Erfahrung von Gewaltherrschaft und Besatzungszeit.

Dieser Beitrag folgt der Spur, die die persönlichen Erlebnisse zuweilen als Leitmotiv, zuweilen als irrlichternder Splitter im Kosmos von Lems Werks hinterlassen haben. Hierzu gehören nicht nur seine Romane, sondern auch einige Einleitungen und Rezensionen zu real existierenden und – Lems besonderes Markenzeichen – zu einigen nicht existenten Büchern. Die Erfahrung schicksalhaften Leids, so ist zu zeigen, erwies sich als prägend für Lems lebenslange Beschäftigung mit dem »Zufall« als maßgeblicher Konstante des Seins und bestimmte auch die überaus ernsthaften Ansprüche, die er an das von ihm generell als trivial eingestufte Genre der Science Fiction stellte.

Jutta Braun

Wie sich Lems Biografie in sein – großteils nunmal science fictionales – Werk eingeprägt hat, hatte ich lange nicht im Blick und wurde und wird auch überwiegend außen vor gelassen. Jutta Braun spürt dem detailreich nach und nimmt mir unbekannten Lem-Erstling dafür unter die Lupe. Was mir auffiel, sobald ich erfahren hatte, dass Lems Vater Arzt war: In Lems zweitem SF-Roman Gast im Weltraum
– noch unter kommunistisch-utopischer Flagge segelnd -, wird der namenlos bleibende Protagonist wie sein Vater Arzt und reist auf der Gea als Gast im Weltraum zu den Sternen. Zu Beginn wird die Biografie des Protagonisten geschildert und das noch 30., dann 31. Jahrhundert bekommt Konturen, wie man sie sich bis 1955 für ausmalenswert ersann. Lange bleibt der sehr ruhige, wortkarge Vater blass, tritt kaum je auf, schweigt dann meist, ist daher eigentlich so gar nicht Vorbild für seinen Sohn. Bis zu einer zutiefst berührenden Szene: just nachdem der Sohn den Vater für vorbildlos erachtet hatte, erlebt er mit, wie diesem zum Dienstjubiläum ein endloser Reigen an Gratulanten aufsucht, samt und sonder ehemalige Patient*innen, die dem Arzt tiefe Dankbarkeit entgegenbringen und stillschweigend Respekt zollen, indem sie ihm einen Hügel aus Blumen zu Füßen legen. Dafür kommen sie selbst vom Mars herbei; auch uralte Weltraumveteranen machen ihre Aufwartung. Eine, wie ich vermute, durch und durch biografische Szene, in der Stanislaw Lem seinem Vater huldigt, dem lebenswerk des stillen Schaffenden, der im Behandlungszimmer und OP-Saal Nacht für Nacht überlebenswichtige Heldentaten vollbringt, die jedoch nicht besungen worden sind und die man nicht wie beim Marathon, den der Protagonist betreibt, leistungssportlich ermessen kann. Kein Leistungswettbewerb, den der Vater fürs Schaufenster betreibt, sondern Dienst an den menschen, wofür er lebt. Nirgendwo sonst habe ich so von Lem schreiben gelesen! Und meiner Lesart nach ist der Vater nicht bloß, nicht allein menschgewordener Kommunist, arbeitsam und sich aufopfernd für die Gemeinschaft. Das mag noch hinzukommen, mit hineinspielen, aber für mich ist vor allem diese zu Herzen gehende Szene zutiefst biografisch fundiert.

In heutigen Tagen muss man noch anmerken: der Protagonist apllaudierte seinem Vater nicht bloß mal vom Balkon herab, sondern anerkannte die Systemrelevanz von menschen wie seinem Vater dadurch, dass er selber Arzt wurde. Ein größerer Schritt für die Menschheit, erst recht wenn sie mit diesem Jungarzt dann zu den Sternen aka Alpha-Centauri fliegt. Immerhin ist man also im 31. Jahrhundert weiter und zeigt Haltung und Rückgrat, wenn man nicht sofort, aber sobald man eine solche würdevolle Wichtigkeit einsieht. Im 21. Jahrhundert geht man lieber covidiotisch steil und verwechselt narzisstisch sich mit Menschenwürde, für die Mensch (über)leben können muss. Ein utopischer Roman auch in dieser lesart….

Paradisiien an der Weichsel

Und wer sich mit vorigem Text bereits eingelesen hat, für den/die habe ich ein ganzes Buch zum Weiterlesen. Dank Wiki bin ich in den Fußnoten zu Lems SF-Roman Transfer aka Rückkehr von den Sternen auf die Dissertation von Antonina Dyjas: Paradisien an der Weichsel. Polnische Science Fiction 1945-1989 im Kontext der literarischen Utopie. gestoßen[1]. Ein Volltreffer!

Antonina Dyjas erhellt mir so ein bisher völlig abgeschattetes Feld, von dessen Existenz ich wissend ahnte, über gehörig gewusstes Nichtwissen verfügte, also: NICHTS WUSSTE. Dass es jenseits polnischen Autors Lem eine ganze SF-Szene gegeben hat, war klar. Schon deshalb, weil ich – immerhin und wenigstens – über die deutschen Gewordenheiten in dieser causa etwas orientiert bin. Über die 1950er Jahre als science fictionale Aufbruchzeit in Deutschland insbesondere durch Rainer Eisfelds „Die Zukunft in der Tasche“, wo er eindrücklich lesenswert die wilde Zeit des Aliens Rainer (inmitten der halbstarken Pubertät) nachzeichnet, wie er zur SF fand, sich der erste Deutsche SF Club (SFCD) unter Federführung späteren Perry Rhodan-Mitbegründers Walter Ernsting alias Clark Darlton als Sockel des Fandoms herausbildete und vieles mehr. Mit klarem Fokus und doch immer auch zur Seite blickend, ergänzt Perry Rhodan Die Chronik 1 die weitere Zeit bis und so richtig ab Anfang der 60er Jahre. Im Windschatten der SF-Reihen bei Pabel / Moewig sowie dem Riesen Heyne ist die Positionierung beispielhaft des Bastei Lübbe-Verlags auch sehr interessant.

All das und manch mehr über Deutschland ist also soweit so bekannt. Hingegen ist alles jenseits von Lem in Polen für mich ein einzig Weißer Fleck gewesen, den nun erst und das sehr gut zu lesen Antonina Dyjas erleuchtet und so erkennbar auf die Leselandkarte rückt. Zur Orientierung folgend das Inhaltsverzeichnis, worum es vertiefend geht:

  • 1. Einführung. 3
  • 2. Utopie – Dystopie – Science Fiction. Ein Exkurs in die
    Begrifflichkeit. 9
  • 3. Polnische literarische Utopie. Ein Rückblick. 18
  • 4. Polnische Science Fiction. Die Selbstreflexion. 31
  • 5. Utopie trifft Science Fiction. Die Fallbeispiele. 37
    5.1. Neue Zeit, neue Hoffnung? 37
    5.1.1. Andrzej Ziemięcki – Schron na Placu Zamkowym. 39
    5.1.2. Władysław Umiński – Zaziemskie światy. 53
    5.1.3. Roman Gajda – Ludzie Ery Atomowej. 67
  • 5.2. Macht und Ohnmacht. 81
    5.2.1. Boruń / Trepka – Zagubiona przyszłość. 82
    5.2.2. Wojciech Kajder – Śmierć jest światłem. 97
  • 5.3. Lems verpflichtende Ferne. 110
    5.3.1. Stanisław Lem – Powrót z gwiazd. 113
    5.3.2. Stanisław Lem – Kongres futurologiczny. 138
  • 5.4. Auf eigenen Wegen. 152
    5.4.1. Hanna Malewska – LLW. 154
    5.4.2. Janusz A. Zajdel – Cylinder van Troffa. 171
    5.4.3. Marek Oramus – Dzień drogi do Meorii. 192
  • 6. Schlussbetrachtung 214
  • Bibliographie 223

Im zweiten Kapitel schärft Dyjas das Verständnis der sehr fein verlaufenden Genregrenzen zwischen U- und Dystopie sowie Science Fiction, jene dieser vorausgingen, um inzwischen inmitten der SF angekommen zu sein. Kapitel 3 blickt in die Geschichte polnischer Utopien, wo ich immer wieder westeuropäische Klassiker als Inspirationsquell durchscheinen sehe. Zum Beispiel Somnium – Johannes Keplers Traum vom Mond oder andere Geschichten vom und über den Mond, wie sie in der Auftaktfolge 1 von 4 in Die Rückspultastehörbestens zusammengetragen sind. Und doch stets in spezieller Interpretation der „Vorlage“, sprich niemals bloße Kopie. Kapitel 4 ist, wir sind nun nach dem Zweiten Weltkrieg in den 80er Jahren vor dem Ende des Analysezeitraums angekommen, äußerst spannend. Dyjas zeichnet hier nämlich eine SF-Szene-Diskussion nach – ohne dass Lem zu Wort käme: es geht um das Selbstverständnis polnischer SF, was sie kann, leisten soll und wozu sie denn am Ende gut ist. Was macht das „Polnische“ an der polnischen SF aus?, so die zugrundeliegende Frage. Für Unwissende wie mich besonders erhellend, weil so mit Wortbeiträgen der involvierten Protagonisten klarer wird, was für sie hierbei zentral, zu kritisieren oder zu verteidigen gewesen ist.

Schon im InhaltsVZ, umso mehr dann im Text werden zahlreiche dieser Autoren – nahezu ausnahmslos wirklich nur Männer -, vorgestellt. Am Interessantesten vielleicht Janusz A. (Andrzej) Zajdel (1938-1985), „einer der wichtigsten Vertreter der polnischen Science Fiction“. Wiki weiß, dass von ihm zu DDR-Zeiten ziemich viel bei Das Neue Berlin veröffentlicht worden ist, was es nicht bis in unsere Tage geschafft hat. Allerdings läuft hier eine investigative Anfrage des Blogautors, da sehr wohl Titel des Verlags noch heute – sogar als ebook – erhältlich sind. So beispielsweise von Gert Prokop, dessen wichtigste SF-Krimis – sehr lesenswert – zugänglich sind. Vom besagten Zajdel wiederum hat es nur die Kurzgeschichte “Prognosie“ es nach 2021 geschafft. Mir ebenfalls besonders ins Auge gestochen ist ein Autor, der noch vor dem Zweiten Weltkrieg publiziert hat und in erster Linie Dichter war: Antoni Slonimski (1895-1975). „Zweimal Weltuntergang“ von 1937 sowie „Der Zeittorpedo“ von 1924[2]
sind die zu nennenden „SF“-Werke, die zeitkorrelativ zu Werken von Hans Dominik erschienen sind. Beide in den 80ern bei Suhrkamp übersetzt und noch heute antiquarisch aufspürbar. Schon deshalb zu empfehlen, weil Lem in beide Werke mit Vor- und Nachwort einführt. Und einen Landsmann durch Lem höchst selbst vorgestellt zu bekommen, kann nur gewinnbringend sein.

Und dieser Lem, falls Tichy ihn sich nicht nur ausgedacht hat?

Ja, dieser Lem kommt auch noch vor. Er ist de facto alles überragender, alles überstrahlender, aber auch – siehe mein Unwissen – alles in den Schatten stellender Koloss polnischer SF. Er war prägend, wenn nicht das Gebirge, zu dessen Fuß die Propheten pilgerten. Mit gleich zwei Romanen – „Transfer“ (Rückkehr von den Sternen) und Der Futurologische Kongress gerät er in den Analysefokus.

Mit Antoni Smuszkiewicz lassen sich drei Phasen der Entwicklung polnischer SF ausmachen:

  • “Bis zum Jahre 1958 herrschen die Begeisterung und der Glaube an den Fortschritt dank der Wissenschaft. Dieser wird der Menschheit erhebliche Erleichterung in der Zukunft bringen und ist somit nicht anfechtbar.“
  • “Die zweite Phase legt Smuszkiewicz auf die Jahre 1959-1970 als den Zeitraum der Schaffung der Konventionen der SF fest, während dem das artistische Niveau bestimmt wird.“
  • “Nach 1970 beginne die letzte Phase der Ausweitung der Grenzen der Science Fiction bezüglich der Problematik und der Form.“

Antonina Dyjas, Kap. 5, S. 37

Vor dem Zweiten Weltkrieg galt SF nur als „Randerscheinung“, erlangte erst danach „den Status einer eigenständigen literarischen Erscheinung und zeigt mit fortlaufender Zeit vehemente
Veränderungen und ein Aufblühen des Genres.“ (Dyjas, Kap. 5) Diese Hintergrundfolie im Sinn, auf der Lem schrieb, lässt sich auch sein Schaffen dreiteilen. Przemysław Czapliński spricht hier von einer “Spirale des Pessimismus“:

  • “Der Ausgangspunkt der Spirale umfasst den utopischen Kreis seiner Romane: Der Planet des Todes (Astronauci, 1951) und Gast im Weltraum (Obłok Magellana, 1955), in denen ein enthusiastischer Entwicklungsweg der menschlichen Gesellschaft dank der fortschreitenden Technik und Wissenschaft in Form einer Weltraumreise gezeichnet wird.“[3]
  • “Darauf folgt die Phase der Antiutopie, in der die wechselseitigen Einflüsse zwischen Technologie und Ethik geprüft werden. Dazu gehören: Eden (1959), Transfer (Powrót z gwiazd, 1961), Memoiren gefunden in der Badewanne (Pamiętnik znaleziony w wannie, 1961) und Der futurologische Kongress (Kongres futurologiczny, 1973). Von der Überzeugung geleitet, dass „die Lösung zentraler Probleme der Menschheit sich immer mit Furcht oder mit der Zunahme von Fehlern verbindet“ 255 , glaubt Lem in dieser Phase noch an die Umkehrbarkeit der Geschichte.“
  • “Der Verlust dieses Glaubens führt Lem unweigerlich in die Etappe des Katastrophismus, der sich zunächst in Fiasko (1987), dann in Frieden auf Erden (Pokój na ziemi, 1987) und Lokaltermin (Wizja lokalna ,1982) zeigt.“Dyjas, Kap. 5.3 Lems verpflichtende Ferne

In dem bereits hörempfohlenen Kulturfeature auf WDR3 Baustelle Kosmos wird Lems Altersgegrantel auch schon betont. Und auch die übrigen Beiträge zum Jubiläum, auf die ich hinwies, gehen stets auf seinen zunehmenden, anschwellenden Pessimismus ein. Den als Genörgel eines alten Mannes abzutun, scheint mir aber weiterhin etwas kurzgegriffen angesichts krisenhafter bis katastrophischer Umstände, die sich mensch selber geschaffen hat, weil er immer noch nicht das zweischneidige Flammenschwert, sprich die Dialektik der Aufklärung verstandesgemäß und bis zur Handlungsebene hinab durchdrungen hat.

Das für heute, so viel zu Lem nachgereicht. An Lektüren sollte es nun nicht mehr mangeln. Und ich darf offenbaren, dass Antonina Dyjas weniger Satzlänge pflegt als ich. Wer bis hierhin gelesen hat, kann also auch Dissertation und erst recht vorigen Beitrag von Jutta Braun. Gut Buch! Die Antwort ist immerhin vorab schon klar, nicht wahr?

  • Abstract:

    Die polnische Science Fiction Literatur bietet in vielen Fällen einen Bezugspunkt zum Genre der Utopie. Um dies für den Zeitrahmen 1945-1989 zu belegen, wurden zehn Romane von neun Autoren ausgewählt und in vier zeitlich-thematische Schwerpunktkreise unterteilt. Der erste Zirkel umschließt die Nachkriegszeit, die politische Neuordnung Polens und die damit verbundenen Hoffnungen und Zukunftsbilder. Interessant ist in diesem Bereich der Zäsur die Frage, welche neuen Tendenzen gesetzt, und welche aus der literaturhistorischen Vergangenheit fortgeführt werden. Als nächste folgt die Phase der kommunistischen Machtetablierung, des Wettlaufs der beiden Systeme und der damit aufkommenden Gefahr einer nuklearen Auseinandersetzung. Einerseits wird dabei auf den ideologisch ausgerichteten Strang, andererseits auf den der Warnutopie gesetzt.

    Stanisław Lem dominiert unbestritten mit seinem Schaffen die Science Fiction ab den sechziger Jahren. Aus diesem Grund wurden von ihm zwei Werke in einem separaten, ausschließlich ihm gewidmeten Teil der Analyse platziert. Die Spezifika zweier Dystopien aus den Eckpunkten dieser Phase stehen dabei im Vordergrund. Schließlich folgen die Vertreter der „Neuen Welle“ der polnischen SF-Autoren. Der Spannungsbogen zwischen Lems Einfluss und der eigenen Impulse dieser Romane bildet den Abschluss dieser Untersuchung, welche einen bestimmten Entwicklungsweg der polnischen Science Fiction utopischen Charakters gezeichnet hat.

    In der Anfangsphase haben die Romane einen starken appellativen Charakter. Die positiven Bilder der Zukunftswelten sind von Enthusiasmus sowie dem Glauben an Technik und Fortschritt geprägt. Die folgende Einreihung in die Riege der ideologisch geprägten Literatur zeigt die Instrumentalisierung des Genres. Als genannte Ausnahme sticht die Warnutopie Kajders in dieser Zeit hervor. Die Loslösung von der politischen Einbettung gelingt schließlich Lem, der durch die Vielfalt und Tiefgründigkeit seiner Dystopien dem Genre einen besonderen Platz in der Literatur und Forschung verleiht. Die daran anschließenden Pfade der folgenden Autoren lassen einen starken Drang zur Kritik und zur Veränderung der unmittelbaren Realität im kommunistischen Polen erkennen. Eine Dynamik der ästhetischen und wirkungspolitischen Diskussion innerhalb des Genres tritt in den Vordergrund und gestaltet eine spezifische Plattform oppositioneller Kraft.

    Antonina Dyjas

  • Das Vorwort zu Der Zeittorpedo ist neuaufgelegt in “Essays im Insel-Verlag im Jubiläumsjahr Lem zu Ehren erschienen, dort ab Seite 138.
  • Frage: Wo bleibt – zumindest die Erwähnung – des andersgearteten de facto Erstlings „Der Mensch vom Mars“ aus dem Jahre 1946, ein Jahrzehnt vor dem allseits bekannten Auftaktromanen?
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