Hallo Mitwelt!
Es gibt ja die Sentenz „Ich habe nichts gegen Musik, aber ich höre Rap“. Die möchte ich aufgreifen und abwandeln zu: „Ich habe nichts gegen Literatur, aber ich lese Science Fiction“! Fantasy auch noch, wie zu ergänzen ist, auch wenn diese hier im Blog noch sehr stiefmütterlich vernachlässigt worden ist. So oder so, beide Genres gelten nicht als, schon gar nicht Hochliteratur, anerkannte Weltliteratur. Außer so einen Kanon stellt Denis Scheck zusammen, der hierbei keinerlei Berührungsängste hat, damit meiner Wahrnehmung aber ziemlich alleine ist oder zumindest allzu lange einsam geblieben ist. Aber um beide Genres geht es diesmal nicht, denn ich kann vom wagemutigen Sprung in diese „Literatur“ berichten. Zugegeben wie so oft vermittelt durch ein taugliches Brückenmedium, das mir die windumtoste Hängebrücke ins Land der Literatur erst gelegt hat. Dieses Land der Dichter und Denker, gekonnten Schreiberlinge, die in wohlformulierter verbaler Präzision pointiert oder in ausufernder Anschaulichkeit ausführlich Worte auf (e)Papier bannen und so vom „Menschlichen, allzu Menschlichen“ tiefengründig erzählen.
Ein Meister dieser Zunft der Literaten (und Literatinnen!) soll, so hörte ich es flüstern, James Joyce sein, der mit einem Werk überragt, herausragt, berghoch weitsichtig auftürmt wie ein felskrönender Leuchtturm: ULYSSES! Davon anerkennend Raunen hatte ich es schon gehört, wusste trotzdem mit den in die Runde geworfenen Schlagworten nichts anzufangen. Aliterarische Sozialisation… Denn neben aller Meisterlichkeit hieß es dann auch stets auf dem Fuße folgend, es sei auch so unglaublich anspruchsvoll zu lesen, wortreich verdichtet zu einem zwischen zwei Deckeln gebannten Weißen zwerg der Narration. Er – James Augustine Aloysius Joyce, so viel Zeit muss sein – wart am 02. Februar 1882 geboren, also zehn Jahre vor hier immerhin einmal gewürdigten J.R.R. Somit Kind des ausgehenden viktorianischen Zeitalters, dem sich Joyce aber hörbar weniger verpflichtet sah als Tolkien. Denn dieser stand – wie es ein Fachmann wie Helmut W. Pesch klar zu benennen weiß – insbesondere mit dem Herrn der Ringe und zuvor kindgerecht verpackt auch mit dem Hobbit in der Erzähltradition des viktorianischen Reiseromans. Joyce seinerseits steht Pate für die literarische Moderne aka moderne Literatur, die sich gerade auf die Fahnen geschrieben hat, mit den bis in die Antike echolotend zurückreichenden Traditionen zu brechen und eingedenk der industrialisierungsgetriebenen soziokulturellen Umbrüche wortfinderisch neue Pfade einzuschlagen. Nicht nur Ulysses sei „ein Stil eigen, der auf jeweils spezifische Art und Weise die Zersplitterung von Erfahrungswelten reflektiert und nach neuen Formen des Ausdrucks suche.“ (zit. n. Wikipedia)
Foreshadowing eines Tagesausflugs
Aber wie konnte dann selbst so ein Literaturbanause wie meiner einer die ‚richtige‘ Abzweigung auf dem Pfad der Literatur doch noch nehmen, um im Haus solcherart Literatur einzukehren? Einer, der Lem für vielbedenkenswert hält und selbst Asimov für lesenswert, obgleich dieser doch nahezu nur in Dialogen schreibt? So einer ist doch längst wie das Kind mit dem Bade verschütt gegangen… Manchmal, aber nur manchmal überkommt mich dann doch der Hauch des Literarischen, wenn ich nämlich mit großer Aufmerksamkeit und stetem Interesse das SWR2 Forum auch zu diesen Themen höre: sonst zunächst Forum für aktuell(er)e Wandlungen des Weltgeschehens inklusive manch Zeitenwende verhandeln Moderator*in und stets drei GästInnen vielfach ebenso Themen der Literatur. Für mich auf tauglich geeicht durch eine Sendung 2019 zu 50 Jahre Der Herr der Ringe auf Deutsch (wiederholt 2021), war zum Ulysses schon am 01.02. eine Sendung ausgestrahlt und online gegangen. Darauf ließ ich mich nur zu bereitwillig ein, das Format hatte schließlich bewiesen, über Literatur und ihre Autor*innen profund und anregend diskutieren zu können. Anlass war „100 Jahre Ulysses“, da das Werk 1922 als Buch veröffentlicht wurde, dessen 18 Kapitel zuvor bereits als fortlaufender Roman in Zeitschriften Kreise gezogen hatte. Und so habe ich wahrlich und frei eingestanden erst an diesem Tage erhört, was diesen Roman ausmacht, welche Wirkgeschichte er genommen hat, was den Zugang zur Lektüre allerdings auch für Unvorbereitete erschwert. Dass diese Sendung de facto ein Foreshadowing war, ahnte ich da noch nicht. Bevor wir zu dem kommen, was da lange Schatten warf, noch zu einen zweiten Beitrag, der jüngst am 09.06. beim SWR2 lesenswert Magazin zu hören war und online noch ist: fünf Fragen zum 100. Geburtstag des Ulysses. Was den Roman ausmacht, wie er konstruiert ist, welches größte Vorbild er sich nimmt, aber auch was der Roman schon verhandelt hat und uns daher heute noch sagen kann. Als „Schnelleinstieg“ in die Materie sehr tauglich.
Ich schrieb, dass Joyce einer der Literaten für eine literarische Moderne sei und sich dafür schreibtechnisch wie inhaltlich experimentell Neuem bediente, das prototypisch schon hier und da zu lesen gewesen sein mag, im Ulysses aber seine veredelte Verdichtung findet. Durchweg neu ist der Stoff, aus dem er schöpft, hingegen nicht. Konstruktiv genau genommen so überhaupt nicht. Mit Ulysses verweist nicht nur der Titel auf die eine Odyssee Homers (schlicht englische Bezeichnung), die 10-jährige Irrfahrt des alten Zausels Odysseus, der nach Ende des ebenfalls 10-jährigen Trojanischen Krieges doch nur zurück in seine Heimat Ithaka will. Geradlinig zielführend verläuft die journey to home allerdings nicht, göttliche Kräfte werfen ihn stets aufs Neue zurück, um zum Teil Jahre an Orten weit der Heimat festzusitzen. An eben diesen zweiten großen Text der europäischen Literatur schließt Joyce an und lässt statt Odysseus seine Hauptfigur Leopold Bloom in Dublin seine Odyssee eines Alltags durchlaufen.
Und wie die Homerische Odyssee nicht, wie es verkürzte Erzählungen Glauben machen, nur von Odysseus episch erzählt, geht es auch in Ulysses mitnichten nur um die Alltagsreise des Mister Bloom – so sehr auch diese das Ganze überstrahlt und prägt. Voraus gehen drei Kapitel, die an die Rahmenhandlung der Odyssee gemahnen, wie sie im Troja Alert in Vorabfolge ZWEIUNDVIERZIG zur Odyssee in ihrer Funktion und Bedeutung besprochen wurde. Das Epos beginnt, wohin es Odysseus zieht, nämlich in seiner Heimat, wo wir über beharrlich treubleibende Ehefrau Penelope und beider Sohn Telemachos erfahren. Im Ulysses ist, so viel Spoiler darf sein, die Ehefrau Blooms untreu und mit Stephen Dedalus ist die zweitwichtigste Figur auch nicht Blooms Sohnemann. Dennoch ist diese „Telemachie“, wie der ‚Prolog‘ des ersten Teils bei Homer genannt wird, bedeutend fürs Kommende, die eigentliche – zwölf Kapitel umfassende – „Odyssee“ des Mittel- und Hauptteils. Zuletzt endet es mit den drei kapiteln des „Nostos“, der Heimkehr.
Auch verweisen die Kapitelnamen auf antike Stoffe bzw. Gestalten. Die partout nicht zu kennen oder nur so vage, dass man deren Essenz nicht kennt, wäre einer der Punkte, die den Zugang zum Sinn der unkonventionellen Handlung arg versperren dürften. So nimmt in Kapitel 1 „Telemachos“ Stephen Dedalus die Rolle des Sohnes ein, um sich in Kapitel 2 „Nestor“ gleich dem Odysseischen Vorbild von einem alten Ratgeber letztlich nur untaugliche Beredseligkeit anhören zu müssen, die zu nichts führt. Kapitel 3 „Proteus“ verweist auf den verwandlungsfreudigen Meeresgott gleichen Namens, der sich hier als Hund am Strand in Stephens wüster Fantasie verformt. Und so weiter. Es lohnt sich, hierfür wissende Wiki begleitend zur Hand zu haben, um die antiken Widerhalle hören und verstehen zu können. Sonst, so mein Eindruck, wird es doch recht chaotisch, bleibt doch sehr unkonventionell unromanhaft und scheint außer fortschreitender Tageszeit keinen roten Faden zu haben.
Aus Text wird Ton
Nun zum Kern des Beitrags: dem 18-teiligen Hörspiel des SWR, das schon zum 90. Jubiläum des Ulysses 2012 herausgebracht worden ist, nun nur zu passend wiederholt wird: „Vor 100 Jahren ist der „Ulysses“ von James Joyce erschienen. SWR2 wiederholt aus diesem Anlass seine vielfach gerühmte gut 23-stündige Hörspielfassung in 18 Teilen. Das Meisterwerk der klassischen Moderne läutet eine Zeitenwende in der Romanliteratur ein: In 18 Kapiteln wird aus verschiedenen Perspektiven und über zahlreiche Stilregister ein Tag in Dublin erzählt.“ (zit. aus der Internetpräsentation)
Je Kapitel des Buches gibt es eine Hörspielfolge, benannt nach obigem Muster nach antiken Haudegen, die symbolträchtig den Inhaltskern der jeweiligen Episode pointieren. Online anklickbar ist ein digitales Booklet, das gut möglich damaligem Hörspiel beigefügt war. Hier finden sich – unbedingt durchzulesen – kapitelweise Zusammenfassungen der Handlung, der mit diesem kompakten Wissen m.E. echt besser zu folgen ist. Übersichtlich aufgelistet sind alle Sprecher*innen, darunter nur zu namhafte Größen der Szene. Da sollte jede*r, wer nicht gerade erst geboren ist, prägende Stimmen wiederfinden. Interessant: für mich klang Stephen Dedalus (Jens Harzer) anfangs verdächtig nach „2. Detektiv Peter Shaw“, auch firmierend unter den Decknamen Jens Wawrczeck, der sehr ähnlich klingen und tönen kann, es dennoch nicht ist. Dietmar Bär, den ich am Intensivsten durch die Millennium-Trilogie Stieg Larssons her kenne, ist niemand geringeres als Leopold Bloom höchst persönlich. Und auch Arthur Dent (unwahrscheinlich, aber soll auch Felix von Manteufel gerufen werden, der auch der Professor der Narnia-Hörspiele ist) ist mit von der Partie:))
Insgesamt dreiundzwanzig Stunden, was somit auch diesbezüglich ziemlich genau – und nur zu passend – der Eintagodyssee Blooms entspricht. Ich hatte beinahe vier Monate nach gelinktem SWR2 Forum die ersten drei Hörspiele verschlungen, um in manch Irritation gestürzt zu werden. Nicht nur, dass es keine altbekannten Handlungsbögen zwischen den Folgen – bisher wenigstens – gibt, nein, auch innerhalb einer Folge wird die Handlung nicht nach altgedienten Spannungselementen entwickelt und vorangetrieben. Hinzu dann meine Irritation, dass dieser Bloom fehlt, keinmal auch nur erwähnt wird, während der Tag von Dedalus doch schon nennenswert voranschreitet. Bedenke Bloom. Und auch wenn ich noch längst nicht zu Ende gehört habe, wollte ich auf dieses Hörspiel, an diesem Tag bereits aufmerksam machen. Auf weitere Beobachtungen komme ich dann bei Zeiten zurück.
Und dieser Bloomsday?
Dieser Bloomsday ist heute – am 16.06. dieses Jahres, just deshalb heute auch die finale Folge 18 PENELOPE online gegangen ist. Denn die Handlung von Ulysses spielt eben an diesem Tag, dem 16.06. des Jahres 1904, auch wenn wir – die Buchveröffentlichung zählt – davon erst seit 1922 wissen. Und am Tag des Leopold Bloom, am „Day of Bloom“, am Bloomsday lohnt es sich, des Ulysses zu gedenken und je nach Zeit sich doch wenigstens ein Kapitel / eine Hörspielfolge lang seinen irrwegigen Pfaden durch einen Dubliner Tag anzuschließen und ihn zu begleiten.
Weiteres, was mich an alledem eigentlich anspricht und derlei, in Bälde